Der entdeckte Weihnachtsmann

 

In Sommerton war es tiefe Nacht, mitten in der Vor-Weihnachtszeit. Der Schnee hatte den kleinen Ort fest im Griff. Marthy konnte wieder einmal nicht einschlafen. Er war zwar ein großer Junge von 9 Jahren, aber zwei Wochen vor Weihnachten war sein Schlaf nicht mehr so fest wie üblich. Die Vorfreude auf das, was der Weihnachtsmann ihm wohl von seinen Wünschen erfüllen würde, war einfach zu groß. Mom und Dad schliefen schon lange, und er wälzte sich hier immer noch mit wachen Augen hin und her. Mal zog er sich die Bettdecke über den Kopf, mal lugte er wieder heraus, was seinen Einschlafzustand nicht unbedingt verbesserte. Ach man, diese Unruhe vor Weihnachten, schön und lästig zugleich.

 

Schließlich stand er auf und huschte zum Fenster, um sich die Weihnachtsbeleuchtung im Garten ihres Hauses und bei den Nachbarn anzusehen. Mit dem Schnee überall sahen die vielen Lichter und Figuren so schön weihnachtlich und bunt aus. Eine ganze Weile blickte er so aus dem Fenster, bis seine Augen schließlich doch ab und an erst für einen kurzen Moment, dann aber immer häufiger und für länger zufielen.

 

Plötzlich schreckte er hoch. War da nicht ein kurzes Knarzen aus Richtung seiner Zimmertür zu hören gewesen? Er drehte langsam den Kopf und lauschte. Hm, er hatte sich wohl getäuscht. Und doch: Irgendetwas ist doch da. Er konnte es nicht deuten. Leise erhob er sich, öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte hinaus. Rechts, am Ende des Ganges, war die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern. Da war in der Dunkelheit nichts auszumachen. Nach links geblickt sah er schemenhaft die Tür vom Nähzimmer, die Tür zum Dachboden und die Treppe hinunter in den Flur. Leise schob er sich aus seinem Zimmer und trippelte zum Treppengeländer. Dort hörte er schon wieder etwas – so etwas wie ein bekanntes “Klack”, was er aber gerade nicht zuordnen konnte. Er spähte von oben auf den Flur hinab und entdeckte, dass die Wohnzimmertür einen Spalt geöffnet war. Und aus diesem Spalt kam ein unregelmäßig flackerndes Licht. Angespannt setzte er einen Fuß nach dem anderen auf die Treppenstufen, stieg geräuschlos hinab und spingste am Türpfosten vorbei ins Wohnzimmer. Was er dort erblickte, ließ ihn erstarren. Seine aufgerissenen Augen starrten auf einen Weihnachtsmann, der in einer Hand eine Taschenlampe hielt und auf ein Gerät zu seinen Füssen leuchtete. Bevor Marthy aber alles richtig wahrnehmen konnte, musste er irgendein Geräusch verursacht haben, denn der Weihnachtsmann drehte schlagartig den Kopf und leuchtete ihn mit der Taschenlampe an. Eine kleine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als der Weihnachtsmann einen Finger vor seinen weißen Bart hielt und „schschscht“ machte. Dann bedeutete er Marthy, dass er wieder nach oben ins Bett gehen sollte, und fingerte ungestüm an seinem roten Mantel herum. Er brachte schließlich eine Reisig Rute hervor, die er Marthy wippend entgegenhielt.

 

Schreckdurchflutet stürzte Marthy zurück, die Treppe hinauf, sprang in sein Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Er brauchte einen langen Moment, um zu verstehen, was er dort soeben gesehen hatte. Da stand doch tatsächlich der Weihnachtsmann mitten in ihrem Wohnzimmer, nur zwei Schritte vom Weihnachtsbaum entfernt. Dabei dachte er doch, dass es den gar nicht wirklich gibt, sondern eine schöne Erfindung von den Eltern war, um die Weihnachtszeit noch etwas spannender zu machen.

 

Langsam löste sich seine Anspannung etwas und er dachte: „Dad!“ Ja, das muss doch sein Vater gewesen sein, wer sonst!? Marthy schälte sich unter seiner Bettdecke hervor, schlich durch den Flur zur Schlafzimmertür seiner Eltern. Es gelang ihm, sie geräuschlos zu öffnen und einen Blick hineinzuwerfen. Aber dort lagen Mom und Dad und schliefen tief und fest. Marthys Stirn legte sich in Falten.  Er schlich zurück und setzte sich wieder auf sein Bett. Er grübelte. Also, Dad war es nicht. Sein Onkel Ruben wohnte in der Nähe von Sacramento. Bis nach Sommerton waren das einige hundert Meilen. Er schied also auch aus. Jemand aus der Nachbarschaft, den Mom und Dad beauftragt hatten? Wohl auch nicht, sonst würden sie niemals so fest schlafen. Marthy fiel einfach nichts erklärendes ein. Bis auf eines: Wo der echte Weihnachtsmann ist, kann sein Rentierschlitten doch auch nicht weit sein. Den galt es jetzt zu finden.

 

Er sprang mit Schlafanzug in eine Hose, schleuderte sich eine Winterjacke aus seinem Schrank über, stülpte sich eine Mütze auf den Kopf und schlich, so schnell ihn seine Beine trugen, auf den Dachboden. Dort öffnete er die kleine runde Dachluke an der Wand und spähte hinaus. Die Kälte ließ seinen hektischen Atem ins Freie dampfen. Er musste sich etwas beruhigen, er konnte deshalb kaum richtig sehen. Die Sackgasse lag ruhig und friedlich unter ihm. Die Weihnachtsbeleuchtungen an den einzelnen Häuschen und in den Vorgärten strahlten herrlich weihnachtlich. Zu sehen war jedoch gar nichts Ungewöhnliches. Marthy wartete. Er dachte nach. Wenn ihr Zuhause zufällig das letzte Haus war, das vom Weihnachtsmann aufgesucht würde, ist es doch völliger Blödsinn, die Straße im Blick zu haben. Denn dann würde der Weihnachtmann den Schlitten ja über den Nachthimmel zurück steuern, wo immer er auch hergekommen war. Sofort drehte er die Dachluke so, dass er fast den gesamten Himmel überblicken konnte. Aber was ist, wenn der Weihnachtsmann bei ihnen begonnen hat? Dann hilft es gar nichts, die Sterne am Himmel anzustarren. Und so drehte Marthy die Luke wieder in die vorherige Stellung zurück. Hatte er einen Denkfehler? Gab es noch eine dritte Möglichkeit, die er nicht bedacht hatte?          

 

Ihm fiel seine Freundin Angelina von gegenüber ein. Wenn er sie nur erreichen könnte, besser noch, wenn sie jetzt hier wäre. Sie hat oft so gute Ideen, dachte Marthy. Und während seine Gedanken wirr seinen Kopf durchpflügten, nahm er plötzlich eine Bewegung wahr. Ja, dort unten - er traute seinen Augen kaum - bewegte sich ein rotes Licht die Straße entlang. Und nicht nur ein rotes Licht. Als seine Augen sich an die Lichtverhältnisse auf der Straße gewöhnt hatten, sah er ihn: Den Weihnachtsmann, auf seinem Schlitten sitzend, und vor ihm die Rentiere. Das rote Licht, dass er als erstes wahrgenommen hatte, war Rentier Rudolfs leuchtende Nase. Marthys Mund stand offen und er setzte kurzzeitig mit dem Atmen aus. Das war ja unglaublich. Nahezu sensationell. Seine Augen waren aufgerissen und er war wie erstarrt. Erst als sein Körper sich wegen der fehlenden Atemluft bemerkbar machte, lief Marthys Atmung wieder normal. Jetzt gab es keine Halten mehr, er musste Angelina irgendwie kontaktieren. Schneller als er den Kopf zurücknehmen konnte, schloss er das Luk und schlug sich den Bogen des Rahmens vor die Stirn. „Ah, Mist“ stöhnte er, machte sich aber trotz des dumpfen Schmerzes umgehend auf zu seiner Freundin. Beinahe wäre er in der Hektik mit seinen Hausschuhen in den Schnee gestapft, aber im letzten Moment bemerkte er es noch und zog im Flur seine Boots an. Dann stürzte er endlich hinaus. Zweimal fiel er, von seiner inneren Eile getrieben, im Vorgarten in den Schnee, der in seinem Gesicht hängen blieb und bis in seinen Jackenkragen rutschte. Wenig später glitt er auf der Straße ebenfalls aus und schlitterte auf dem Bauch bis zum gegenüberliegenden Bordstein. Schnell raffte sich Marthy wieder auf stand nach wenigen Schritten auf der Veranda von Angelinas Haus. Als er gerade hektisch auf den Klingelknopf hämmern wollte, konnte er soeben noch innehalten. ‚Man, ich Doofmann‘, dachte er, ‚Angies Eltern schlafen doch auch! Lass dir was anderes einfallen.‘ Er rannte durch den Vorgarten zur Stirnseite des Hauses, an der Angelina ihr Zimmerfenster hatte. Es war dunkel. Natürlich, was sonst. Sie konnte bestimmt besser schlafen als er. Marthy zischte leise durch die Zähne: „Angie!” Er wartete, aber das Fenster blieb weiterhin dunkel. Dann zischte er etwas lauter „Angie!” Wieder wartete er, aber nichts tat sich. Unruhig trat er auf der Stelle und stapfte unter sich den Schnee platt. Aber lauter konnte er doch nicht zischen. Dann formte er einen Schneeball und warf ihn in Richtung des Fensters, dass er aber glatt verfehlte. Der Schneeball klatschte stattdessen in die Gitter des Klimagerätes an der Wand. Marthys Hände waren jetzt schon eisig. Hätte er doch nur an seine Handschuhe gedacht. Aber irgendwie musste er Angie jetzt wach bekommen, bevor der Weihnachtsmann wieder verschwand. Er formte einen weiteren, ziemlich festen Schneeball und warf ihn mit aller Kraft zum Fenster. Diesmal traf er, und zwar annähernd mittig auf die Glasscheibe, die ein dumpf schwingendes Geräusch von sich gab. Marthy zog vor Schreck die Schultern hoch und biss die Zähne aufeinander. Der Schneeball hinterließ einen dicken Punkt auf der Scheibe, und als Angie endlich hinter dem dunklen Fensterglas erschien, sah sie aus, als hätte sie eine dicke, weiße Nase im Gesicht. Dann glitt der Rest des Schneeballs langsam die Scheibe hinunter. Marthy sprang hoch und wedelte wie wild mit den Armen. Für Angelina sah er aus wie ein weißer, schneebehangener Gnom, der kurz vorm Durchdrehen zu sein schien. Und doch erkannte sie, dass es Marthy war. Nur er war verrückt genug für solche Aktionen. Sie öffnete das Fenster und ihr roter Haarschopf lugte hinaus. „Marthy, hast du den Verstand verloren? Es ist mitten in der Nacht! Fast wäre die Scheibe zersplittert.“ wisperte sie hinunter.

 

„Du musst sofort runterkommen, ich habe ihn gesehen! Er ist echt. Es gibt ihn wirklich!“ zischte Marthy ihr zu und wedelte dabei wild mit dem Arm Richtung der Straße.

 

„Was? Wen hast du gesehen?“

 

„Na, den Weihnachtsmann. Auf seinem Schlitten. Er war bei uns im Wohnzimmer. Ich habe ihn überrascht.“

 

„Mit dem Schlitten bei euch im Wohnzimmer? Bist du jetzt völlig plemplem? Das Kinderthema ist doch durch, oder?“

 

„Nein, natürlich ohne seinen Schlitten! Wenn ich’s dir doch sage – er ist da drüben und fährt durch unsere Straße!“

 

“Marthy, das ist um diese Uhrzeit wirklich nicht witzig.“

 

„Angie, bitte, ich sage die Wahrheit! Das ist kein Scherz!“

 

„Ist das so?“ flüsterte Angelina, und ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel zu, was sie von Marthys Aktion in ihrem Garten hielt. „Marthy, geh‘ wieder rüber ins Bett, dieser Witz hat nicht funktioniert. Außerdem wird das hier saukalt!“

 

Langsam zog sich Angelina zurück und war im Begriff, das Fenster wieder zu schließen, als sie Marthy zischen hörte: „Excalibur! Excalibur!“

 

Angie hielt inne. Das war ihr gemeinsames Wort, welches sie sich immer in besonderen Situationen sagten, wenn es um die absolute Wahrheit ging. Noch nie hatten sie beide den Namen des berühmten Schwertes missbraucht.

 

„Excalibur?“ wisperte sie noch einmal zurück.

 

„Excalibur!“ bestätigte Marthy.

 

„Bin gleich da!“

 

Das Fenster klackte leise zu, und wenige Augenblicke später stand Angie dick vermummt neben Marthy im Vorgarten. Sie versteckten sich hinter einer kugelrund geschnittenen Zypresse, auf der oben auf eine große Haube aus Schnee lag, wodurch sie von weiter weg wie ein riesiges Gesicht mit Mütze aussah.

 

„Okay Marthy, also: Wo ist er hin?“ Angies rote lockige Haare lugten frech rechts und links aus ihrer Kapuze. Sie schob sich die behandschuhten Hände vor den Mund, und ihre grünen Augen funkelten Marthy im Lichtschein der weihnachtlichen Beleuchtungen an.

 

„Er ist von uns aus in diese Richtung die Straße weitergefahren“, flüsterte Marthy, und deutete mit dem Arm an Angies Kopf vorbei. „Wir müssen jetzt erst mal sehen, wo er geblieben ist.“

 

Marthy sah, dass Angie hinter ihren Handschuhen leise lachte, denn ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

 

„Was ist jetzt so witzig?“ fragte er leise.

 

„Na, unsere Straße ist doch ne Sackgasse. Er muss also wieder zurück. Und so kommt er automatisch wieder hier vorbei.“

 

„Nein, muss er eben nicht. Er ist der Weihnachtsmann! Mit seinem Rentierschlitten kann er genauso gut über den Himmel zurückfliegen, wie du weißt. Und dann sind wir die gearschten“, stellte Marthy ganz sachlich fest. Angelinas Lachen verschwand umgehend.

 

„Ach Mist, du hast recht. Hab‘s vergessen. Sorry.“ Angelina blickte zur Seite, an der runden Zypresse vorbei. „Okay,“ sagte sie entschlossen, „dann nichts wie los. Wir müssen ihn finden.“

 

Geduckt liefen sie von Deckung zu Deckung und nutzten dabei Büsche und Hecken der Vorgärten aus. Drei Grundstücke weiter erblickten sie ihn dann, den Rentierschlitten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehend. Beide gingen hinter der Vorgartenhecke vor Oma Lesters Haus in die Hocke und steckten die Köpfe zusammen.

 

„Marthy, du hattest recht. Da ist er. Was schlägst du vor? Von hier aus können wir den Weihnachtsmann nicht richtig sehen.“ Angies grüne Augen reflektierten den Schnee um sie herum, und für Marthy sah sie jetzt aus wie eine nette kleine Hexenschülerin.

 

„Wir wissen nicht, wie lange er schon dort in dem Haus ist. Wenn wir jetzt die Straßenseite wechseln, ertappt er uns womöglich, wenn wir gerade mitten darauf sind. Am besten warten wir hier, bis er im nächsten Haus verschwunden ist.“ Marthy fand seinen Plan gut durchdacht und er blickte Angie mit fragenden Augen an. Nach einer Weile nickte sie zustimmend. Wieder nahm sie die Hände vor ihren Mund und atmete hinein. Marthy beneidete ihre Weitsicht wegen der Kälte, dass sie an Handschuhe gedacht hatte. Seine Finger dagegen wurden immer eisiger.

 

Immer wieder lugten sie abwechselnd über die Hecke.

 

„Die Rentiere sind irgendwie merkwürdig,“ bemerkte Angelina fast wie zu sich selbst.

 

Marthy zog sie an ihrem Parka zu sich herunter. „Was sagst du?“

 

„Na, die Rentiere – die bewegen sich gar nicht,“ flüstere sie ihm zu.

 

Marthy lugte jetzt über die Hecke und warf einen Blick auf die vor den Schlitten gespannten Tiere. Sie standen tatsächlich stocksteif da. Sind sicher eine besondere Rasse, so Weihnachtsmann Rentiere, dachte er. Oder vielleicht geht es ihnen so wie ihm, und sie sind steif vor Kälte. Während Marthy so über die Hecke blickte und nach einem Lebenszeichen der Tiere schaute, nahm er fast zu spät die Bewegung wahr, die sich auf der anderen Seite des Schlittens tat. Als er diese schließlich doch noch bemerkte, ließ er sich schlagartig fallen und riss dabei auch Angelina um, so dass beide rücklings im Schnee lagen. Sie drehten die Köpfe zueinander und Marthy ächzte mit aufgerissenen Augen: „Da - ist - er!“

 

Beide rafften sich auf, aber während Marthy an seinem Platz verharrte, krabbelte Angie eifrig hinter der Hecke entlang bis zu dem Weg, der von der Straße zu Oma Lesters Haus führte. Dort lugte sie vorsichtig ums Eck. Sie sah den Weihnachtsmann auf den Schlitten steigen und nach irgendetwas greifen, und schon setzte sich der Schlitten zögerlich mit einem merkwürdigen, schleifenden Geräusch in Bewegung. Dann blickte sie wieder auf die Rentiere. Und die bewegten sich nun mal kein bisschen. Und was noch komischer war: Rudolfs Nase leuchtete plötzlich nicht mehr richtig, sie flackerte vor sich hin.

 

Sie winkte hinter ihrem Rücken Marthy zu sich heran. Als er neben ihr auftauchte, deutete sie mit der Hand auf den Schlitten. „Marthy, da ist was faul, sag ich dir. Schau dir mal Rudolfs Nase an – hat die ‚nen Kurzschluss, oder was?!“

 

Marthy starrte auf den langsam gleitenden Schlitten, auf die Rentiere, auf Rudolf, und auf den Weihnachtsmann. Angie hatte immer den Drang, alles etwas nüchterner zu betrachten. Das wusste Marthy. Auch in der Schule, wenn es im Unterricht mal um Geschichten und Sagen ging, fand sie immer Erklärungen, weshalb da etwas gar nicht oder doch funktionieren konnte. Und bei dem, was Marthy jetzt hier sah, war alles schon irgendwie merkwürdig. Das musste er zugeben. Obwohl er nicht so richtig feststellen konnte, was. Also würden sie handeln müssen.

 

„Wir müssen näher heran, es hilft nichts,“ flüsterte er.

 

„Ja, schon, aber wir müssen warten, bis der Weihnachtsmann im nächsten Haus verschwunden ist,“ stellte Angelina fest.

 

Sie warteten, bis der Schlitten anhielt und der Weihnachtsmann sich zum nächsten Haus aufmachte. Dort machte er sich an der Haustüre zu schaffen und war nach einigen Minuten im Haus verschwunden.

 

„Jetzt!“ Halblaut gab Marthy das Kommando und beide sprinteten geduckt los auf das gegenüberliegende Grundstück zu. Hinter einem bunt beleuchteten Weihnachtsbaum im Vorgarten  gingen sie vorerst in Deckung.

 

„Das wäre schon mal geschafft“, triumphierte Marthy, aber Angie hatte nichts Eiligeres zu tun, als seine Euphorie gleich wieder einzubremsen. „Gar nichts ist geschafft“, flüsterte sie ihm zu, „wir sind doch noch viel zu weit weg. Wir müssen noch ein Haus näher ran!“  

 

Da war es wieder, dachte Marthy, Angelinas uneingeschränkter Realitätsdrang. Sie konnte einem auch jeden Lichtblick vermiesen. Ein Zwischenziel kennt sie nicht. Hop oder Top, sonst nichts.

 

„Okay, du hast ja recht“, gab Marthy etwas zerknirscht zu. „Aber wenigstens sind wir schon mal auf der richtigen Straßenseite.“

 

„Ja und, wir sehen hier im Moment noch weniger als von dort drüben.“

 

Marthy lugte um den Weihnachtsbaum herum. Ja, ja, sie hat natürlich hierbei auch wieder recht. Selbst von dem Schlitten sah er jetzt nur noch den oberen Rand, und die Rentiere gar nicht mehr.

 

Angie stupste ihn am Arm. „Wir machen es so. Vorwärts bis zu den Büschen dort und zwischen ihnen durch. Dann sind wir auf dem nächsten Grundstück. Da ist die Garage der Jensens, die hat seitlich ein Rankgitter. Daran klettern wir hoch, legen uns auf das Dach und haben den besten Rundblick auf alles.“

 

Das klang für Marthy wie ein Plan. Ausgeheckt von einem Mädchen, das meistens die besten Ideen hatte. Also willigte Marthy vorbehaltlos ein. Sie liefen geduckt los, jeder um seine Seite des Weihnachtsbaumes herum, und kamen wenig später an den großen Büschen an. Sie hielten kurz inne und lauschten. Dann schoben sie sich ganz langsam hindurch, um so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Der Schnee von den Ästen rieselte auf die beiden hinab und umhüllte ihre Kleidung nach und nach mit einem weißen Überzug. Dann waren sie durch. Angelina sah zu Marthy herüber und fing breit an zu grinsen. „Siehst aus wie ‘n Schneezwerg,“ bemerkte sie leise kichernd.

 

Haha, selber, wollte Marthy gerade erwidern, aber Angelina drängte schon gleich vor zu dem besagten Rankgitter. Marthy wollte ihr folgen, aber einige Äste von dem Busch hatten sich in seinem Fliesparka verheddert und hielten ihn zurück. Ganze Schneepakete fielen auf ihn hinab, als er sich losreißen wollte. Angelina war derweil schon elegant auf dem Dach der Garage angekommen, legte sich flach auf den Bauch und beobachtete, wie Marthy sich mit dem Gestrüpp abmühte. Auf der verschneiten Wiese vor ihr standen einige große Weihnachtsfiguren aus Plastik: Ein von innen beleuchteter Weihnachtsmann mit einem riesigen Geschenkesack auf dem Rücken, dahinter einige schwach beleuchtete Weihnachtswichtel, die den riesigen Sack unterstützend mittrugen, sowie ein paar unbeleuchtete Rentiere drumherum. Das war das Werk von dem knurrigen Mister Jensen, dachte Angie, der jedes Jahr dieselben Figuren an immer demselben Platz aufstellte. Sie blickte wieder zu Marthy herüber, der sich zwar befreien konnte, aber jetzt zu allem Überfluss auch noch hinfiel – und das im gleichen Moment, als im Nachbarhaus der Weihnachtsmann wieder vor die Türe trat. Angelina dreht den Kopf und zischte zu Marthy herunter: „Bleib liegen, er ist wieder da!“

 

Sie deutete mit der Hand nach links, duckte sich auf dem Garagendach und schob sich etwas zurück. Marthy konnte sie zwar jetzt nicht mehr sehen, den Weihnachtsmann hatte sie jedoch noch voll im Blick. Irgendetwas schien in Richtung Marthy die Aufmerksamkeit des Weihnachtsmanns erregt zu haben, denn er blickte starr herüber und blieb auf der Stelle stehen. War das nicht schon genug, ging er jetzt auch noch langsam in Marthys Richtung. Sie presste unbewusst die Lippen aufeinander und hoffte inständig, das Marthy sich noch verstecken konnte. Der Weihnachtsmann blieb wieder stehen. Angelina war starr vor Angst, dass er sie jetzt beide entdecken würde. Der Weihnachtsmann reckte seinen Kopf empor, was seinen Bart nach vorn abstehen ließ, ging noch weitere zwei Schritte vorwärts und beugte sich nach rechts und links. Er starrte geradewegs in den Vorgarten der Jensens. Dann wandte er sich nach einer Weile um und ging endlich zu seinem Schlitten zurück. Angelina schob sich sachte wieder an den Rand des Daches und schaute hinab. Wo war Marthy? Verflixt und zugenäht, er war weg! Sie beäugte die riesige platt getretene Schneedecke um den Busch herum, wo Marthy sich eben noch von den Ästen befreit hatte. Dann erspähte sie eine Spur, die von dieser Fläche zu den Weihnachtsfiguren auf der Wiese führte. Aber auch dort war er nicht.  Dann blickte sie auf das Grundstück, von dem sie beide ursprünglich gekommen waren – aber auch dort war kein Marthy zu sehen. Schließlich fiel ihr Blick erneut auf die Figuren unter ihr. Waren das nicht eigentlich drei Weihnachtswichtel gewesen, die den Geschenkesack trugen? Jetzt waren es vier – und im selben Augenblick wandte einer der Weihnachtswichtel ihr sein Gesicht zu. Marthy! Er kauerte auf den Knien, hatte sich zwischen zwei der Weihnachtwichtel geschoben und seine Hände zu denen der Wichtel an den Geschenkesack gelegt. Es sah tatsächlich aus, als wäre er einer von ihnen. Was für eine coole Aktion, dachte Angelina.

 

„Er ist wieder am Schlitten,“ flüsterte sie ihm zu. Auf allen Vieren krabbelte Marthy herüber, kletterte über das seitliche Rankgitter auf das Garagendach und legte sich neben Angelina auf den Bauch.

 

Er hechelte wie eine Zwergdogge, dachte sie, und lächelte ihn erleichtert an. „Das war große Klasse, Marthy. Du bist ein echter Held,“ flüsterte sie ihm voller Bewunderung zu.

 

„Ach, hör‘ bloß auf, das war verflixt knapp. Was meinst du, was ich für einen Schiss hatte.“

 

„Ich auch,“ gab sie zu.

 

Dann widmeten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Weihnachtsmann, welcher derweil ein Haus weiter gefahren war. Von ihrer Position aus konnten sie ihn jetzt äußerst gut beobachten. Sie sahen deutlich, wie er sich an der nächsten Haustüre zu schaffen machte und nach einiger Zeit dahinter verschwand. Das gab ihnen Zeit, einen Blick auf die Rentiere und den Schlitten zu werfen. Rudolfs Nase war inzwischen vollständig erloschen.

 

„Sie ist jetzt ganz aus,“ bemerkte Angelina.

 

“Wer ‘Sie’? raunte Marthy.

 

“Na, die Nase von Rudolph, was sonst!?” Angelinas Flüstern klang etwas genervt.

 

„Hat vielleicht Schnupfen, der Arme“, erwiderte Marthy.

 

Angelina grinste ein gequältes Grinsen und stellte fest: „Schau doch mal genau hin, die sind doch gar nicht echt. Wie schmal die sind. Und was ist das für ein schwarzer Kasten zwischen ihnen?“

 

„Und Zügel gibt es auch keine,” bemerkte Marthy. “Ich glaube, wir sind hier einer riesigen Verarsche auf den Leim gegangen!”

 

„Wir?“ fragte Angelina und grinste erneut.

 

„Ja gut! Ich. Aber die Bedingungen dafür waren auch äußerst günstig.“

 

Angelina stellte fest, dass aus Marthys Stimme jegliche weihnachtlich-heimelige Glückseligkeit vollständig verschwunden war. Jetzt war er trotzig und gar nicht mehr so guter Dinge.

 

Eine ganze Weile lagen sie jetzt schweigend auf dem Dach, und Angelina kroch so langsam die Kälte an den Beinen hoch. Marthy rieb sich die eisigen Hände und hauchte einige Male in seine Handflächen. Schließlich trat der Weihnachtsmann wieder durch die Haustüre hinaus ins Freie. Auf seinen Armen hielt er irgendwelche Dinge, von denen aus Kabel oder sowas Ähnliches herunterbaumelten.

 

„Was zum Kuckuck ist das für ein Weihnachtsmann, der Sachen aus einem Haus in seinen Schlitten lädt,” zischte Marthy scharf.

 

„Ein ziemlich diebischer Weihnachtsmann,“ gab Angie schlagfertig zurück.

 

Plötzlich fiel Marthy wieder das Bild ein, als der Weihnachtsmann bei ihnen im Wohnzimmer stand und ihn im Türspalt erblickte. Kurz vorher leuchtete er mit der Taschenlampe auf etwas…ja genau, das war Dads Laptop gewesen! Jetzt verstand er auch das Klack Geräusch: So hörte sich das Ziehen eines Stromsteckers aus der Steckdose an. Schlagartig wurde Marthy klar was hier vor sich ging.

 

„Weißt du was, Angie, der räumt hier unsere Häuser leer. Der ist nichts als ein ganz gemeiner Dieb. Ich bin mir sicher, dass er auch Dads Laptop eingesackt hat, als ich ihn im Wohnzimmer gesehen habe“, zischte Marthy jetzt gar nicht mehr so leise.

 

„Pssst!“ zischte Angelina zurück. „Nicht so laut. Wenn der uns bemerkt, sind wir dran!“

 

„Wir müssen die Leute warnen, Angie! Wenn wir laut rufen, kommen alle raus.“

 

„Und dann? Mensch, der haut doch ab mit seinem Schlitten, bevor die alle aus den Betten raus und draußen sind.“

 

„Da hast du auch wieder recht. Aber irgendwas müssen wir doch tun.“

 

Angie ballte ihre Handschuhe zu Fäusten. Ihre Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, und Marthy sah, wie sie vor sich hinstarrte. Dann wandte sie ihm ihr Gesicht zu, und Marthy blickte in zwei spitzbübisch funkelnde Augen.

 

„Das werden wir auch. Den lassen wir hier nicht mehr weg. Komm mit!”

 

Marthy wusste, wenn Angie so entschlossen war, hatte sie eine Entscheidung gefällt und würde von dieser auch nicht mehr abzubringen sein. Also hatte es jetzt gar keinen Zweck, nach ihrem Vorhaben zu fragen.

 

So schlichen sie also zurück bis zu Angies Zuhause. Sie führte Marthy zur gegenüber ihrem Zimmer liegenden Hausseite. „Wir nehmen den zur Hilfe,“ flüsterte Angelina und deutet auf den riesigen Pickup ihres Vaters, der im dunklen Carport stand. Marthy blieb beim Blick auf dieses Monster der Mund offenstehen. Als er sich wieder gefangen hatte, tippte er sich mit dem Finger an die Stirn. „Angie, du bist wohl total verrückt. Kannst du den etwa fahren?“

 

Angelina grinste. „Blödsinn, nein, kann ich nicht. Das brauchen wir auch gar nicht.“

 

„Was dann, he?“ fragte Marthy verwundert.

 

„Also, letzte Woche waren Dad und ich im Wald bei den Holzfällern, die den Schneebruch auf dem Highway und den Nebenstraßen entfernt haben. Dad hat ihnen geholfen, die Bäume von der Straße zu ziehen, weil ja niemand mehr aus Sommerton herauskonnte. Und alles nur allein mit dem Ding hier.“ Mit diesen Worten ließ sie eine Hand auf die mächtige Stoßstange des Fahrzeugs nieder und klopfte kameradschaftlich mit der anderen auf die mittig angebrachte, schwere Seilwinde.

 

„Du willst dem falschen Weihnachtsmann jetzt Baumstämme in den Weg legen?“ fragte Marthy verwundert.

 

„Nein, Quatsch. Aber was einen ganzen Baum von der Straße zieht, hält bestimmt auch diesen falschen Rentierschlitten auf.“

 

„Und wie soll das nun wieder gehen?“ Marthy verstand irgendwie nicht, worauf seine Freundin überhaupt hinaus wollte.

 

„Also, wir machen es so: Ich drücke diesen Schalter hier und wickle so das Drahtseil ab, und du nimmst das Ende und befestigst das gegenüber an dem großen Baum, der vor eurem Haus steht. Dann machen wir so richtig Lärm wegen dem Sackgesicht von Weihnachtsmann. Der versucht abzuhauen und bleibt mit dem Schlitten im Drahtseil hängen. Und dann können dein Dad und mein Dad dem verkleideten Typen so richtig das Weihnachtsfest versauen. Und alle anderen bekommen ihre Sachen zurück.“

 

Marthy war wie vor den Kopf geschlagen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Angie boxte ihn freundschaftlich an die Schulter. „Na, was ist? Ist das ein Plan?“

 

Marthy zögerte. Er blickte in Angies Gesicht, sah ihre grünen Augen funkeln, ihr entschlossenes, hämisches Grinsen, das ihre Zähne weiß wie Schnee aufblitzen ließ, und die roten lockigen Haare, die fast gänzlich das Innere ihrer Kapuze verlassen hatten. Wie eine Figur aus Harry Potter stand sie da und wartete auf seine Antwort. Aber sie war nun mal seine beste Freundin, und deshalb sagte er: „Okay, lass uns Weihnachten ohne diesen Weihnachtsmann feiern!“

 

Marthy griff nach dem schweren Karabinerhaken an der Winde, wovon Angie ihn aber abhielt. Sie zog ihre Handschuhe aus und hielt sie ihm hin. „Zieh‘ die hier an, sonst frieren dir noch die Hände am Metall fest. Ich brauche sie gerade nicht, meine Hände sind warm.“

 

Dankbar nahm Marthy das Angebot an, zog sie über und spürte, wie wunderbar warm sie von Angies Händen waren. Das tat richtig gut. Dann machte er sich, so wie sich das Drahtseil von der Winde abspulte, auf den Weg nach drüben. Immer wieder lugten beide in die Richtung, in welcher der falsche Weihnachtsmann wohl immer noch sein Unwesen trieb, ob dieser etwas bemerkte. Es dauerte einige Minuten, bis Marthy die ganze Entfernung geduckt überbrückt hatte. Er legte das Stahlseil einmal in Augenhöhe um den Stamm des Baumes und klinkte den Karabinerhaken daran ein. Dann rannte er gebückt zurück zu Angelina.

 

„So, ich hab‘ es fest gemacht,“ zischte er Angie zu. Sie nickte kurz und ließ die Winde in Gegenrichtung laufen, bis das Stahlseil voll gespannt war.

 

„Sag mal, Angie, ist das nicht gefährlich? Wenn nun andere Autos jetzt hier durchfahren…“

 

„Marthy, vergiss es.“ Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. „In diesem verschlafenen Kaff, um diese Uhrzeit, in einer Sackgasse, wo absolut nichts los ist.“

 

„Noch nicht, aber gleich wird hier was los sein!“ stellte Marthy fest.

 

„Genau, lass uns losbrüllen, Marthy.“

 

„Angie, Angie Angie! Warte mal!“ sagte Marthy in normaler Lautstärke und legte ihr seine behandschuhten Hände auf den Mund. „Dein Dad schließt doch den Truck nie ab, oder?! Benutzen wir doch einfach die Hupe!“ Marthys aufgerissene Augen blickten Angie fragend an.

 

Sie schob die Handschuhe von ihrem Mund und grinste breit. „Aha, ja, gute Maßnahme!“

 

Angelina machte auf der Stelle kehrt, öffnete die Fahrertür und kletterte hinter das Lenkrad. Dann winkte sie Marthy zu sich, der auf der Beifahrerseite zustieg.

 

„Was ist los?“ fragte er verwundert. Angie deutete zur Windschutzscheibe. „Schau dir die Aussicht an. Hier haben wir den besten Blick auf das Geschehen.“

 

Marthy blickte nach vorn und bestätigte das mit erhobenen Daumen. Und dann fing Angie an, auf die Hupe zu drücken. Immer und immer wieder. Sie bediente die Hupe sogar so rhythmisch,  dass es sich anhörte, als wenn eine Alarmanlage an einem Fahrzeug ausgelöst wurde.

 

Eine ganze Weile tat sich gar nichts, so dass Angie und Marthy einander anschauten und mit den Schultern zuckten. Aber dann kam ganz plötzlich Bewegung in die Sache. An den Fenstern der ganzen Nachbarschaft gingen nach und nach die Lichter an. Die ersten Fenster wurden geöffnet, und fast gleichzeitig traten gegenüber Marthys Vater aus der Tür und Angelinas Vater kam um die Hausecke gestürmt. Und genau in diesem Augenblick sauste von rechts laut surrend der Schlitten mit Weihnachtsmann in die Szenerie. Bruchteile von Sekunden später fand der erste Kontakt mit dem gespannten Drahtseil statt. Rentier Rudolf wurde wie von Geisterhand völlig zusammengestaucht, und nachdem seine Nase noch einmal kurz und hell aufleuchtete, flog sie auch schon im hohen Bogen wie eine Kanonenkugel davon. Die zweite Reihe der Rentiere mit Dancer und Dasher sprang aus ihrer Verankerung, und getrennt voneinander setzten beide zum Sprung in den Nachthimmel an, begleitet von ein paar Glitzersternen aus ihrer Schmuckgirlande. Vixen und Pancer, die nächsten Rentiere, hatten etwas weniger Glück, denn bevor sie sich befreien konnten, waren ihre Köpfe vom Rumpf abgetrennt und blieben mit den Geweihen im Schnee stecken. Die nächsten Rentiere, Cubit und Comet, sprangen aus ihrer Halterung und wurden neben die Rentiere Blixen und Dunder geschoben. Auch der Weihnachtsmann, erst noch mit wehendem Bart und aufgerissenen Augen im Führerstand sitzend, konnte jetzt der akuten Vollbremsung des Schlittens nichts mehr entgegensetzen. Kurzzeitig sah er noch aus wie ein Gladiator beim Führen eines griechischen Vierspänners in der Antike, doch dann flog er waagerecht nach vorn. Die Geweihe der Rentiere rissen ihm im Vorbeiflug den Bart ab und den Mantel in Fetzen, wobei er die Mütze einfach nur durch den Gegenwind verlor. Sie bleib derweil auf dem Geweih von Rentier Dunder hängen. Als der Schlitten endgültig still stand, beruhigte sich die Szenerie so schnell, wie sie begonnen hatte. Mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern saßen Angelina und Marthy im Pickup und blickten nach draußen. Angelinas Dad stand ebenfalls wie versteinert, ebenso wie Marthys Dad auf der anderen Straßenseite. Als erstes erlangte Angelina ihre Fassung wieder. Sie streckte den Kopf aus dem Seitenfenster und rief: „Dad, der Weihnachtsmann ist in die Häuser eingebrochen. Der Schlitten hinten ist wahrscheinlich voller geklauter Sachen.” Übereifrig sprang Marthy jetzt aus dem Fahrzeug und rannte auf die Straße. Dort winkte er nach seinem Vater, der sofort herüber sprintete, dabei aber wie ein Hase Haken schlagen musste, um den herumliegenden Trümmern auszuweichen. Angelinas Dad schüttelte den Kopf, sah zu seiner Tochter in den Pickup und brummte vor sich hin. „Was, um Himmels Willen, habt ihr jetzt wieder angestellt? Es ist bald Weihnachten und in der Straße sieht es aus wie auf dem Schlachtfeld.“

 

„Dad!“ rief Angelina und gestikulierte wild mit den Armen. „Der muss dort noch irgendwo sein!“

 

„Wer, zum Kuckuck?“

 

„Der falsche Weihnachtsmann natürlich!“

 

Sie sprang aus dem Truck und rannte zu Marthy und seinem Vater hinüber. Zusammen suchten sie mit den Augen die Umgebung ab.

 

„Was habt ihr nur gemacht, ihr Irren? Die ganze Straße sieht aus wie ein Schlachtfeld,“ bemerkte Marthys Vater ebenso wie sein Nachbar von gegenüber.

 

Aber Marthy trommelte mit der Hand an seinen Arm, der ihn immer noch an der Schulter festhielt. „Dad, der muss hier noch irgendwo sein!“

 

„Wer zum Donnerwetter?“ brummte dieser zurück.

 

„Na, der Weihnachtsmann!“ rief Marthy laut. Dann riss er sich schließlich los und rannte zu dem Schlitten, der friedlich in dem Drahtseil festhing, vor sich die zerknautschten und schäl dreinschauenden Rentiere präsentierend. Die Rentier Knautschzone hatte einen guten Job gemacht. Er sprang auf den Führerstand und krabbelte nach hinten. Dort öffnete er den Reißverschluss eines großen schwarzen Kunststoffsacks und lugte hinein. Er kramte etwas darin herum und hielt schließlich einen Laptop in der Hand.

 

„Dad, schau mal hier!“ rief er mit einem triumphierenden Lächeln, „brauchst du den vielleicht noch?“

 

Die beiden Väter traten mit verblüfften Gesichtern an den Schlitten heran und schauten in den Kunststoffsack. Dann sahen sie sich an, nickten sich zu und sprinteten los in die Richtung, in welcher der Weihnachtsmann seinen unfreiwilligen Abflug angetreten hatte. Nach einer Weile fanden sie ihn, neben einem zerbrochenen Gartenzaun liegend. Der Gesuchte blinzelte sie aus verschmiertem Gesicht an und stammelte: „Ich….ich hätte auf meine innere Stimme hören sollen…..diese Straße… viel zu friedlich…Verdammt!!”

 

Die beiden Väter packten ihn am Kragen und zerrten ihn zurück zum Schlitten. Der Geschundene ächzte und stöhnte dabei vor sich hin.

 

“Das war’s für dich, du Lump!” grunzte Marthys Dad, und Angies Dad verpasste ihm noch eine deftige Kopfnuss.

 

Irgendwer musste mittlerweile die Streife gerufen haben, denn ein Polizeiwagen mit Blaulicht tauchte plötzlich auf und hielt einige Meter vor den Trümmern an. Der Sheriff stieg aus, zog seine Winterjacke über und schaute in die Runde.

 

Mathys Vater ging auf ihn zu. „Hallo Sheriff, gut, dass Sie da sind!“

 

Der Sheriff grinste gequält. „Na, ich weiß ja nicht, es war so warm und friedlich in meinem Office. Was ist denn hier passiert? Das sieht ja aus wie auf dem Schlachtfeld.“

 

“Ganz meine Meinung, Sheriff,” bestätigte Marthys Dad.

 

Die beiden Männer unterhielten sich eine ganze Weile und Marthys Vater berichtete ihm, so gut er konnte. Dann ging der Sheriff zum festgesetzten Weihnachtsmann am Schlitten, der gar nicht mehr wie ein Weihnachtsmann aussah, sondern eher nach jemanden, der lebend einer Rinder Stampede entkommen war. Er forderte über Funk ein weiteres Streifenwagenteam und einen Krankenwagen an und legte dem Dieb Handschellen an, welche er am Schlittengestell befestigte.

 

Dann wandte er sich mit versteinerter Miene an Marthy und Angelina: „So, und nun zu euch zwei beiden. Ihr habt ihn also gestellt, wie ich hörte?“

 

Marthy und Angelina nickten zögerlich, nicht wissend, was jetzt auf sie zukam.

 

„Auch mit einem, ähm, sagen wir mal, gewissen Aufwand?“ Der Sheriff ließ nochmals den Blick durch die umliegende Gegend schweifen.

 

Die beiden zuckten mit den Schultern.

 

„Ihr habt in der Tat eine Menge Glück bei der Sache gehabt. Ich will euch auch sagen, warum.

 

Erstens: Das Schlittengespann ist sehr schwer, weil es durch zwei mächtige Akkus angetrieben wurde.” Er deutete auf den verschränkten und verbeulten schwarzen Kasten, der vom Schlitten halb abgetrennt war. “Der ganze Schlitten sollte eine Attraktion der Stadt Sommerton für die Weihnachtszeit sein und Menschen gegen Bezahlung als besonderes Taxi dienen. Es hat aber durch verschiedene Umstände keine Zulassung dafür erhalten und müsste eigentlich nochmal komplett überarbeitet werden.“ Er machte eine Pause und blickte auf die zusammengequetschten vier Rentiere vor dem Schlitten. Dann ließ er seinen Blick nochmals über die Reste der übrigen Rentiere schweifen.

 

„Nun, ich denke, das ist auch dringend nötig. Die machen mir keinen vertrauenserweckenden Eindruck,” brummte er wie zu sich selbst.

 

Sein Funkgerät knisterte, er drehte sich weg und sprach einige Worte mit der Stimme am anderen Ende.

 

Als er geendet hatte, blickte er Marthy und Angelina wieder an.

 

„Zweitens habt ihr ein Menschenleben in Gefahr gebracht, zwar eines, das wegen Bankraubs und verschiedener anderer Delikte lange hinter Gittern gehört, jedoch von dort ausgebüxt ist. Aber immerhin ist es ein Menschenleben. Das darf man nicht vergessen.“ Er warf einen Blick auf den ehemaligen Weihnachtsmann, der mit Handschellen an den Schlitten gefesselt war und seelenlos vor sich hinstarrte. “Nun ja,” brummte er wieder zu sich selbst, “andererseits ist er so mal an die Luft gekommen, was ihm aber nicht wirklich gut bekommen ist.”

 

Er machte erneut eine kurze Pause und deutete dann auf das immer noch gespannte Stahlseil. „Und drittens habt ihr weitere Unfälle und Gefahren durch das Ding da in Kauf genommen, um euer Ziel durchzusetzen. Das geht über die Verhältnismäßigkeit der Mittel weit hinaus.“

 

Jetzt meldete sich Angelina zu Wort und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sheriff, wir sind beide 9 Jahre. Was können wir schon über die Verhältnismäßigkeit irgendwelcher Mittel wissen?!“

 

Der Sheriff zog verblüfft die Augenbrauen hoch.

 

„Außerdem, Sheriff, was haben Sie im Alter von 9 Jahren darüber gewusst? Waren Sie da auch schon Sheriff?“

 

Dem angesprochenen blieb der Mund offenstehen.

 

“Außerdem war es doch verhältnismäßig unwahrscheinlich, dass in dieser kleinen Stadt, um diese Uhrzeit, in einer Sackgasse, die auch noch als Spielzone ausgewiesen ist, eine große Gefahr von dem Seil ausging. Selbst ein Fahrradfahrer wäre eher wegen der glatten Straße hingefallen, als in diesem Seil zu landen.“ Sie wandte sich an Marthy: „Sag du doch auch mal was!“

 

Marthy zuckte mit den Schultern: „Ja-a. Sheriff, Sie hat recht.“

 

Der Sheriff rieb sich nachdenklich das Kinn, wandte sich dann an Angelinas Vater. „Hey, Ben, hat deine Tochter schon mal den Wunsch geäußert, später Strafverteidigerin zu werden?“

 

„Nein, warum?“

 

„Ach, war nur so ein Gedanke.“

 

Dann wandte er sich wieder den Kindern zu.

 

„Nun gut, nach diesem Schlussplädoyer lasse ich hiermit die Anklage fallen. Und jetzt geht endlich und seht zu, dass das Drahtseil da wegkommt.“

 

Jetzt war es Marthy, der sich zu Wort meldete und zeigte auf den Festgenommenen. “Ist er tatsächlich ein ausgebrochener Bankräuber?”

 

Der Sheriff nickte: “Ja, in der Tat, das ist er. Und noch manches andere.”

 

“Gibt’s da nicht ‘n fettes Kopfgeld oder sowas?”

 

Der Sheriff stemmte eine Hand in die Hüfte und legte die andere auf der Waffe in seinem Holster ab. Dann beugte er sich zu Marthy vor.

 

“Junge, wir sind hier nicht mehr im wilden Westen. Ist ja nicht zu glauben mit euch.” Er schüttelte fassungslos den Kopf, machte eine lange Pause und fuhr sichtlich genervt fort: “Okay, junger Mann, ich werde später nachsehen. Wenn da was ist, spreche ich mit euren Eltern. Kommst du damit klar, Sohn?”

 

Marthy nickte: “Das ist ok. Aber nicht vergessen.”

 

“So, und nachdem das geklärt ist, geht ihr beiden endlich los und macht das Drahtseil hier weg. Wahrscheinlich stolpere ich sonst noch darüber und breche mir den Hals.”

 

Angelina und Marthy machten sich umgehend an die Arbeit. Der Sheriff blickte ihnen nach, schüttelte erneut mit dem Kopf und brummte vor sich hin: “Ich bin Gott dankbar, dass ich schon lange meine Pension haben werde, sollten die beiden jemals eine gemeinsame Anwaltspraxis eröffnen.” Dann rief er ihnen nach: “Vielleicht beschenkt euch der Weihnachtsmann dieses Jahr besonders üppig!”

 

Angelina und Marthy wandten sich um. Marthy deutete auf den Gefesselten. „Das mit dem Weihnachtsmann ist doch großer Humbug. Das ist was für die Kleinen. Ich finde das Ganze irgendwie einen riesigen Blödsinn. Aber trotzdem ist es die schönste Zeit des ganzen Jahres. Frohe Weihnachten, Sheriff.“

 

Der Sheriff seufzte gequält und grummelte vor sich hin: “Frohe Weihnachten, ihr Bälger.”

 

©2023 by Frank Thomas Arnhold